Aus dem Bundeskanzleramt haben Boris Palmer, Matthias Klopfer und Richard Arnold noch keine Antwort auf ihren Brandbrief, den sie im Oktober an Kanzler Olaf Scholz geschrieben hatten. Darin warnen sie dringend vor der Lähmung, die die teils übermäßige deutsche Bürokratie in ihren Augen verursacht. Wolle man das von Scholz ausgerufene Deutschland-Tempo für wichtige Transformationsprozesse erreichen, brauche es die Bereitschaft, Restrisiken in Kauf zu nehmen, und größere Entscheidungsspielräume für die Verwaltungen vor Ort, fordern die drei Oberbürgermeister aus Tübingen, Esslingen und Schwäbisch Gmünd (#stadtvonmorgen berichtet hier). Dass sie auf ihre Anregungen keine Reaktion – nicht einmal einen „Kanzleitrost“ – erhielten, sagte der Schwäbisch Gmünder Oberbürgermeister Arnold vorgestern in der ZDF-Talksendung „Markus Lanz“.
Trinkwasserbrunnen: 4.000 Liter für die Bürokratie
Überbordende Bürokratie sei „ein großer Hemmschuh für die Entwicklung in der Bundesrepublik“, meint Arnold in der Talkrunde. Täglich erlebe er Beispiele, „da schmeißt man sich teilweise weg“, so der Oberbürgermeister. Dazu gehörten die öffentlichen Trinkwasserbrunnen, die die Stadt im Kontext ihrer Klimaarbeit installiert hat.
Bis 2022 galt laut Arnold, dass die Brunnen halbjährlich beprobt werden müssen, um die Wasserqualität zu sichern. Die neue Trinkwasserverordnung schreibe nun aber nicht nur monatliche Proben vor, sondern auch wöchentliche Reinigungsintervalle und, dass den Brunnen täglich mindestens zwei Liter Wasser entnommen werden müssen. Also beschäftige die Stadt extra einen Mitarbeiter, der täglich durch die Stadt streift, um die Brunnen zu bedienen, damit diese die vorgeschriebene Wassermindestabgabe erfüllen – „4.000 Liter Wasser für die Bürokratie“ würden da jährlich verbraucht, meint Arnold.
Erprobungsparagraf als Lösungsansatz?
Ein ähnliches Kuriosum berichtet Arnold aus dem Bereich der Seniorenbetreuung. Weil hier Raumbreiten von 3,20 Meter vorgeschrieben seien, müsse eine renommierte lokale Senioreneinrichtung einen Neubau in Erwägung ziehen. Denn im alten Haus sind die Räume nur drei Meter breit. Der durch die fehlenden 20 Zentimeter notwendig gewordene Neubau habe wohl eine Verteuerung der Betreuungsplätze und damit womöglich soziale Effekte zur Folge.
Doch es gebe auch „Licht am Horizont“, so Arnold. Exemplarisch verweist er auf den sogenannten Erprobungsparagrafen im Bereich der Kitabetreuung. Hiermit könne in einem besonders streng reglementierten Bereich, nämlich der Kinderbetreuung, von hohen Standards abgewichen werden. Eine Voraussetzung dafür sei, dass alle Betroffenen zustimmten. Beispielsweise ließe sich so in Einzelfällen die vorgeschriebene Quote von Kindertoiletten pro betreutem Kind aufweichen, sollte ein Kind ohne langwierigen Toilettenneubau in der Kita nicht aufgenommen werden können. Arnold: „Wenn alle einverstanden sind, kann man abweichen.“ Dies öffne den Raum für pragmatische Lösungen.
Größere Ermessungsspielräume und Risikobereitschaft
Eine solche Flexibilität regt der Oberbürgermeister auch für andere Anwendungsfälle an. Nicht alles lasse sich mit Schablonen und Standards regeln. Die Verwaltungen bräuchten größere Ermessensspielräume, um an die örtliche Situation angepasste Lösungen zu finden. Gleichwohl gehe damit auch die Notwendigkeit einher, mehr Verantwortung und Risiken zu übernehmen als bisher. „Da gehört Mut dazu, Courage und Risikobereitschaft“, meint Arnold. Doch der Macher dürfe am Ende nicht der Dumme sein – das sei im Augenblick oft der Fall.
In seiner Sendung am Dienstag richtete Moderator Markus Lanz das Augenmerk auf die Nöte der Kommunen. Themen waren neben überbordender Bürokratie unter anderem Hass und Hetze gegen Lokalpolitiker, das zunehmend gereizte politische Klima, Gewalt unter Jugendlichen, das Defizit kommunaler Haushalte sowie Migration und Integration. Neben Arnold traten in der Runde die Landrätin Dagmar Schulz aus Lüchow-Dannenberg, Bürgermeister Oliver Schmidt-Gutzat aus Heide und Bürgermeisterin Wiebke Şahin-Schwarzweller aus Zossen auf.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.